„Seid nicht zu nett“ – Interview mit Sonia Mikich (Anton Landgraf)

© obs/Medienfachverlag Oberauer GmbH/Annika Fußwinkel

Sonia Mikich war Auslandskorrespondentin in Moskau und Chefredakteurin des WDR. Sie ist Schirmherrin des diesjährigen Marler Medienpreis von Amnesty International. Ein Gespräch über Zeitenwenden in Russland, investigative Geschichten und leise Rebellen.

Vermissen Sie Moskau?

Ich wäre gerne in Moskau, aber ich wüsste nicht, wie gut ich verdrängen kann, dass dort ein Kriegspräsident das Sagen hat. Ich habe Moskau geliebt, es war für mich magisch. Warum? Weil es damals, in den 1990er Jahren, ebenfalls eine Zeitenwende gab.

Die Jelzin-Ära war für Journalisten eine aufregende Zeit. Es herrschte eine Aufbruchstimmung, Freiheiten waren möglich, die Menschen waren demokratiefähig.

Ich habe natürlich auch die Bilder von den Massendemonstrationen 2011 im Kopf. Hunderttausende waren auf den Straßen und schrien: „Putin muss weg!“

Meine russischen Freunde sind auch heute keine Putin-Anhänger, sie verabscheuen und verdammen den Krieg. Aber sie sagen das nicht mehr laut, sondern lassen die Schultern hängen. Sie warten und hoffen, dass es irgendwann vorbei ist mit diesem Präsidenten.

Warum haben so viele Putin falsch eingeschätzt?

Putin war von Anfang an ein Machtmensch, der Russland wieder groß machen wollte. Viele Menschen, die zu den Verlierern der Wirtschaftsreformen gehörten, waren froh, dass nach Boris Jelzin ein starker junger Mann antrat, der das Land wieder nach vorne bringen wollte. Darin bestand Putins Popularität.

Gleichzeitig hat er vom ersten Tag an die russische Gesellschaft, Politik und Wirtschaft auf sich zugeschnitten. Er hat jegliche Konkurrenz beiseite geschafft, und zwar ziemlich schnell. Er hat die Gouverneure entmachtet und die Parteienvielfalt durch massive Wahlmanipulationen zerstört. Anschließend hat er die Massenmedien, allen voran das Fernsehen, auf Linie gebracht.

Im Westen dachten viele: Vielleicht braucht Russland einen starken Politiker. Eine autoritäre Regierung ist immer noch besser als ein Machtvakuum oder Unruhen. Die Wirtschaftsbeziehungen sollten nicht gefährdet werden.

Viele westliche Politiker sind erst aufgeschreckt, als Putin bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 plötzlich Drohungen aussprach. Aber die Empörung versickerte schnell. Selbst nach der Annexion der Krim gab es ein noch gewisses Verständnis.

Nach Ihrer Zeit in Russland waren Sie für WDR-Sendungen wie Monitor und „Die Story“ verantwortlich. Für Ihre Arbeit erhielten Sie mehrfach den Marler Medienpreis, unter anderem für einen Beitrag über den Tod von Oury Jalloh in einer Polizeiwache in Dessau.

Der Fall von Oury Jalloh hat mich damals zutiefst gepackt, denn ich hatte eine simple Frage und eine einfache Motivation: Es kann doch nicht sein, dass ein Mensch in einer Polizeizelle in Deutschland einfach so verbrennt. Warum wird das nicht aufgeklärt?

Wir haben diesen Fall bei „Monitor“, aber auch in der Reihe „Die Story“ immer wieder aufgegriffen. Bei mir hat das starke Zweifel am Rechtsstaat ausgelöst.

Ist es nicht frustrierend zu sehen, dass sich wie im Fall von Oury Jalloh auch 15 Jahre später nicht viel geändert hat?

Natürlich könnte man resignieren und sagen: Aufklärung nützt nichts, es passiert immer wieder dasselbe, die Menschen lernen nicht dazu. Da, wo ein Licht auf ein Verbrechen oder eine Menschenrechtsverletzung fiel, wurde es ziemlich schnell auch wieder zappenduster.

Aber wer, wenn nicht wir, soll sich um Aufklärung kümmern?

Also NGOs wie Amnesty, aber natürlich auch kritische Journalisten. Wenn man nur eine einzelne Geschichte aufdeckt, wenn man eine einzelne Person rettet, wenn man einen einzelnen Umstand verbessert, dann hat sich schon viel gelohnt.

Öffentliche Aktion während der Jahresversammlung von Amnesty International in Köln, Pfingsten 2022
Inzwischen sind die Formate von Joko und Klaas oder Jan Böhmermann populär, die eigentlich eher für Unter- haltung stehen, aber auch investigative und politische Beiträge haben. Sind die eine Konkurrenz für die klassischen Polit-Magazine?

Ich finde Jan Böhmermann fabelhaft. Er macht immer mehr investigative Geschichten. Ich war besonders angetan von seiner Sendung über das Schwarzfahren. Wer kein Geld hat, um die Strafe zu bezahlen, kommt irgendwann ins Gefängnis – was absurd ist, weil man dort erst recht nichts bezahlen kann. Und diese Strafe kostet den Staat täglich sehr viel mehr Geld, als er durch das verhängte Bußgeld eingenommen hätte.

Böhmermann hat diese Fälle aus allen Winkeln betrachtet – aus wirtschaftlicher, juristischer und historischer Perspektive. Offensichtlich stammt das entsprechende Gesetz noch aus der Nazizeit. Am Ende ging es sehr praktisch darum, Geld zu sammeln, um Leute aus dem Gefängnis zu holen. Das war für mich absolut rund und fantastisch.

Ist das eine Konkurrenz für „Monitor“? Nein. Ich hätte vielleicht das Thema mit einem Beitrag erweitert, hätte Politiker gefragt: Warum tut ihr nichts dagegen, warum gibt es zum Beispiel keinen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr?

Beim Marler Medienpreis vergeben in diesem Jahr erstmals auch Amnesty-Jugendgruppen eine Auszeichnung, also Menschen, die zumeist kein lineares Fernsehen mehr schauen…

Ich glaube auch nicht, dass sich viele Jugendliche am Donnerstagabend vor den Fernseher setzen, um „Monitor“ anzusehen. Aber dafür gibt es ja Mediatheken. Und wir müssen gleichzeitig auf vielen Plattformen präsent sein.

Das ist für Ältere oft schwieriger, für die Jüngeren hingegen eine Selbstverständlichkeit. Sie haben vielleicht kein so großes Interesse am Fernsehen, aber dann ploppt irgendeine „Monitor“-Recherche auf den üblichen Plattformen auf. Und siehe da, sie nehmen es wahr, finden es gut und erzählen es weiter. Was will man mehr?

Was zeichnet eine gelungene Dokumentation oder einen Magazinbeitrag aus?

Hatte der Beitrag eine Wirkung? Ist irgendjemand aufgeschreckt? Ein Unrecht wurde deswegen vielleicht nicht sofort abgeschafft, aber wurde darüber diskutiert? Flossen die Erkenntnisse in eine Bundestagsdebatte ein? Wurde jemand dadurch aus einem Gefängnis geholt? Hat der Beitrag motiviert, so dass Aktivisten oder Journalisten sehen, dass ihre Arbeit wahrgenommen wird?

Wir haben Werte, die immer wieder verteidigt und umgesetzt werden müssen. Und Medienschaffende sind dafür da, dass die Demokratie immer wieder Sauerstoff bekommt und nicht eines Tages völlig ausgehöhlt und schwach ist.

Sie haben zu Beginn Ihrer journalistischen Karriere über Punk und Musikerinnen wie Patti Smith geschrieben. Vermissen Sie solche Rebellen heute?

Die heutigen Rebellen sind in der Tat nicht laut. Sie rotzen ihre Wut nicht mehr so heraus wie in meiner Generation. Braucht man das? Ich finde ja. Ich finde Regelverstöße, auch im Individuellen, fruchtbar.

Natürlich ist es schwierig, etwas zu bewegen und gleichzeitig das System, das bewegt werden soll, völlig infrage zu stellen. Das ist eine etwas schizophrene Situation.

Aber ich persönlich neige eher dazu, zu sagen: Seid nicht zu nett! Seid nicht zu höflich! Versucht, Verständnis zu gewinnen, und ab einem bestimmten Punkt, wenn es gar nicht klappt, seid radikal.

Sonia Seymour Mikich wurde 1951 in Großbritannien geboren und wuchs in Deutschland auf. Sie arbeitete ab 1992 als Korrespondentin in Moskau und leitete später das ARD-Studio in Paris. Ab 2002 moderierte sie das Polit-Magazin Monitor. Von 2014 bis 2018 war sie Chefredakteurin Fernsehen beim Westdeutschen Rundfunk (WDR). Sie lebt in Köln.